Anschrift
Universität Luzern
Religionspädagogisches Institut
Frohburgstrasse 3
CH - 6002 Luzern
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Im Jahr 2016 wurde von zahlreichen Technologiefirmen wie Apple, Samsung, Google, Microsoft, Sony und Facebook die nächste Generation der Weltwahrnehmung eingeläutet: Virtuelle Realitäten (VR). Spätestens an Weihnachten lagen zahlreiche Microsofts Mixed Reality-Brillen, PlayStation VR und zahlreiche Cardboards unter den Weihnachtsbäumen. Doch VR steht nicht nur für Entertainment; vielmehr kann es auch in Bildungsprozessen genutzt werden…
Im Klassenzimmer sind staunende Schülerinnen und Schüler zu hören. Julia stößt Laura am Arm und spricht ganz aufgeregt: „Da, schau mal da drüüüben“ und dreht Lauras Kopf in Richtung Fenster. „Ahhhh!“ hört man überrascht und zufrieden sagen. „Jetzt sehe ich es auch!“.
Ich setze wieder ein, nachdem ich mich davon überzeugt habe, dass alle angekommen sind und auch Julia wieder ihre VR-Brille aufgesetzt hat. Wir befinden uns in Jerusalem, an der Klagemauer und verfolgen das Geschehen. Männer und Frauen stehen dort getrennt und ich erkläre der Klasse die Beweggründe. Dabei überzeuge ich mich immer wieder, dass alle auf die Szenerie blicken. Ich muss zugeben, dass die Klasse optisch mit ihren VR-Brillen merkwürdig anmutet. Doch das gilt nur für den Augenblick – gleich sind wir wieder im Klassenraum und halten das Erlebte fest.
Was vor Jahren mit Zeichnungen und Bildern begann, das Wahrnehmen fremder Kulturen, ohne selbst dorthin gelangen zu müssen, entwickelte sich methodisch immer weiter fort. Filme ergänzten die Wahrnehmungsperspektiven um räumliche Eindrücke und nicht zuletzt erzählte Geschichten. Mit der Etablierung von digitalen Medien im Klassenraum in Form von Beamern, Interaktiven Whiteboards und Active Panels wurde der Zugang zu diesen Erfahrungsräumen erleichtert. Spontan und ohne erhöhten Aufwand können Videoclips abgespielt werden.
Nicht vollkommen neu ist die Idee Orte räumlich darzustellen, gibt es doch schon bereits einige Projekte, die die Aufnahme sakraler Räume in einer Rundumsicht fokussierten. Neu ist, dass diese Technologie sich dahingehend fortentwickelt hat, dass insbesondere die Rezeption dieser Räume zum einen auf technologischer Ebene immer intensiver und zum anderen auf ökonomischer Ebene immer erschwinglicher wurde. So benötigt man neben einem Smartphone (BYOD) – welches über Gyroscope- und Accelerometer-Sensoren verfügen muss – einer VR-Brille (DIY) nur einen Internetzugang, um in virtuelle Welten einzutauchen.
Zudem haben sich die Möglichkeiten derartige Projekte selbst zu gestalten in den letzten drei Jahren deutlich vereinfacht: Mit der Smartphone-Kamera lassen sich einfache Panoramaaufnahmen ohne zusätzliche Peripheriegeräte verwirklichen und selbst 360°-Grad Kameras, die auf Knopfdruck eine fertige Rundumaufnahme erstellen, sind im Einstiegssegment für Bildungseinrichtungen erschwinglich geworden. Einen guten Überblick bieten die Seiten von tomsguide.com, 360rumors.com und kuula.co.
Im Bereich der Religionspädagogik ergeben sich vielfältige Möglichkeiten und Beweggründe diese digitalen Technologien in die Bildungsarbeit an Schulen zu integrieren. Ein Eintauchen in virtuelle Welten bietet eine ungewohnte Nähe und durch das Spielen mit den Perspektiven unterschiedlicher Wahrnehmungsofferten für ein und dieselbe Szenerie. Ein Perspektivwechsel mindestens auf zwei Ebenen, dem räumlichen Ort und der individuellen Person ist möglich. Wie in einem Dokumentarfilm, in dem man sich mittendrin befindet, kann die Lebenswelt Anderer wahrgenommen – sogar miterlebt – werden. Neue Perspektiven, neue Horizont werden eröffnet, wenn von der Außenperspektive Anderer in die Binnenperspektive gewechselt wird. Multimediale Additionen verstärken dabei den Grad an Immersion und nicht zuletzt die Möglichkeit Empathie mit dem Erlebten zu empfinden.
Was einst so unnahbar erschien, erfährt man in der virtuellen Realität als einen selbst betreffend. Diese Nähe birgt die Gefahr die Distanz zu verlieren; sich mit dem Erlebten selbst zu identifizieren. Denn auch wenn beispielsweise die Not und das Elend, die den Beobachter rundherum umgeben (noch) nicht physisch fühl-, schmeck und riechbar sind, so möchte unser Gehirn glauben, dass sie echt sind. Eine emotionale Bedrängnis kann sich breitmachen. Daher ist es notwendig Ausflüge in virtuelle Realitäten gut vorzubereiten, anzuleiten und altersentsprechend zu gestalten. Denn insbesondere Kindern fällt die Unterscheidung realer und virtueller Erlebnisse schwer, sodass derartige Ausflüge erst ab dem fortgeschrittenen Grundschulalter zu empfehlen sind.
Wenn es um die Wahrnehmung anderer Kulturen und Religionen geht, können virtuelle Räume Zugänge zu fremden Gewohnheiten, religiösen Ritualen und Praktiken sowie Räumen schaffen. Neben sakralen Bauten können auch religiöse Praktiken anderer eingefangen und wiedergegeben werden. Erfahrungen, die so in virtuellen Räumen gemacht werden, können dann etwa stereotypischen Denkmustern entgegenstehen; interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen werden somit geschärft.
Im Bereich der religiösen Bildung sind Exkursionen in Kirchenräume und heilige Räume bereits weitgehend etabliert. Schwierigkeiten treten aber dort auf, wo Kirchenräume aus ausgewählten Epochen und heilige Räume bestimmter Religionsgemeinschaften auf Grund der (nicht) vorhandenen Infrastruktur nicht zugänglich sind oder etwa gar nicht mehr existent sind. Bilder und Videos dieser Räume sind nicht in der Lage den Betrachter bzw. die Betrachterin diese Räume so erleben zu lassen, wie es eine sinnlich-leibliche Begehung vermag. Jedoch durch die immer mehr fortschreitenden Möglichkeiten der Technik im Bereich der virtuellen Realität (VR) und erweiterten Realität (AR) bietet sich die Chance, Teilaspekte dieser Begegnung mit diesen Räumen an jedem Ort der Welt einzuholen. Eine neuartige Dimension von Immersion kann durch die Begehung virtueller Räume geschaffen werden, sodass die Lernenden durch Audio und Video vor Ort zu sein scheinen. Die Lernenden begeben sich so auf eine virtuelle Expedition dieser Räume und sammeln und interpretieren Zeichen religiöser Glaubensäußerungen
Im evangelischen Dekanat Aschaffenburg werden vom Jugendreferenten gemeinsam mit Jugendlichen 360°-Bilder der Gemeindeorte (Kirche, Gemeinderäume etc.) und von gemeindespezifischen Aktionen (z.B. Kabum, Konfitage) erstellt und unter Anderem bei Google Streetview veröffentlicht. Damit soll die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinden unterstützt und die gemeindeübergreifende Arbeit gestärkt werden. Genauso wichtig ist in dem Projekt der Bildungsaspekt. Das Empowerment von Ehrenamtlichen und jungen Menschen in den Kirchengemeinden und die Sensibilisierung bezüglich der Themen digitaler Medien, Kommunikation und Datenschutz stehen dabei im Fokus.
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten 360°-Bilder zu teilen. Drei beispielhafte Tools, um 360°-Bilder zu präsentieren, möchte ich kurz zeigen.
Die Plattform ist ein Entwicklungsprojekt von Christoph Schluchter Keinholz (Primarlehrer) und Nico Steinbach (IWM PHBern) im Rahmen eines Fellowships der PHBern. Sie ist intuitiv bedienbar und kostenfrei. Für den Einstieg bietet sich genügend Funktionen, komplexe Touren sind damit jedoch nicht unbedingt möglich: Beispiel.
ThingLink ist eine Bildungstechnologie-Plattform, mit der Bilder, Videos und virtuelle Touren auf einfache Weise um zusätzliche Informationen und Links erweitert werden können. Neben 360°-Bildern, können in der kostenpflichtigen Variante auch 360°-Videos eingestellt und mit Hotspots versehen werden: Beispiel.
Der zweifelsfreie Vorteil von H5P stellt die Integration der Touren in verbreitete Lernmanagementsysteme dar.
Generell empfiehlt es sich für den Einstieg, erst einmal ein kostenfreies Programm auszuprobieren und zu schauen, inwiefern es den Anforderungen des Projekts entspricht. So ist dies etwa mit Stories360.org oder H5P möglich. Es lohnt sich darüber hinaus auch ein Blick auf fortgeschrittene Programme, um neue mögliche Anforderungssituationen zu erstellen, wie Thinglink und Kuula. Beispielsweise lassen sich in letzteren Programmen HTML5-Verknüpfungen einbinden, u.a. YouTube-Videos, Umfragen, Google Maps, Wetterdaten, Homepages etc.
Autor
Jens Palkowitsch-Kühl ist Dekanatsjugendreferent mit dem Schwerpunkt Bildungsarbeit im Ev. Dekanat Aschaffenburg und Referent für digitale Bildung am Religionspädagogischen Zentrum der Evang.-Luth. Kirche in Bayern in Heilsbronn. Darüber hinaus berät er zu Digitalisierungsstrategien und gibt Trainings im Bereich Mediendidaktik, religiöse Bildung und ethische Fragen der Digitalisierung. Er freut sich über Ihren Kontakt über Twitter und XING.
Disclaimer
Teile dieses Artikels erschienen in Palkowitsch-Kühl, Jens (2019): Nach Zeichnung, Dia und Film kommt VR. Religionspädagogische Erkundungen in virtuelle Welten durchführen und gestalten. In: ZeitspRUng. Religionsunterricht und digitale Welt, Nr. 2, 4-7. Hier finden sie auch eine Übersicht über mehrere Plattformen.
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